Auf den Spuren von David Ludwig Bloch in Shanghai
Sehen satt Hören 1080. Sendung am 24. März 2002
Präsentator Jürgen Stachlewitz (im chinesischen Restaurant): Hallo und willkommen zu unserer zweiten Shanghai-Sendung! Im Mittelpunkt steht David Ludwig Bloch, einer der bekanntesten gehörlosen Künstler weltweit. Heute interessieren wir uns noch einmal für die neun Jahre seines Lebens, die er in Shanghai verbracht hat: 1940 – 1949. Wie kam er dort hin? Er musste aus Nazi-Deutschland fliehen, und da war Shanghai für ihn die einzige Fluchtmöglichkeit! Könnt ihr euch vorstellen, wie das ist, plötzlich in einer ganz anderen Welt, einer ganz anderen Kultur leben zu müssen? David hat es geschafft, diesen Kulturschock zu verarbeiten – durch seine Malereien und Holzschnitte! Ein Fernsehteam von Sehen statt Hören war in Shanghai und hat sich auf die Spuren von David Bloch begeben, aber auch auf die Suche nach dem Leben der Gehörlosen im China von heute!
Moderatorin Sabine Kastius: Shanghai. In Chinas größter Stadt leben 13 Millionen Menschen. Heute ist das kleine Fischerdorf Shanghai zu einer pulsierenden Hafenmetropole geworden. Der Hafen am ”Bund”, der berühmten Flaniermeile Shanghais. Diese Szenerie hat David Ludwig Bloch 1940 auf einem Holzschnitt festgehalten.
David Ludwig Bloch: Die Zeit war damals für die Juden so schlimm, dass sie nirgends hin fliehen konnten. Die Fluchtwege waren alle versperrt. Es gab nur noch diese eine, die letzte Möglichkeit, rauszukommen: Shanghai! Ich schrieb an meine Verwandten in Amerika. Die haben für mich Geld gesammelt und dieses Geld musste ich immer vorzeigen. Nur dadurch habe ich die Möglichkeit bekommen, nach Shanghai auszureisen mit dem Schiff. Die Fahrt hat vier Wochen gedauert. Eine lange, aber schöne Fahrt. Ich kam dort 1940 an. Zu dieser Zeit war ich 30 Jahre alt.
Sabine: Shanghai ist eine offene Stadt, bis 1937 japanische Truppen einmarschieren. Japan ist mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich verbündet. Daher versucht die japanische Besatzungsmacht, den Zustrom jüdischer Flüchtlinge nach Shanghai einzuschränken. Seit 1939 fordert sie eine Bürgschaft von 400 US-Dollar pro Person bei der Einreise.
David Ludwig Bloch: Das Leben dort war nicht einfach, sogar sehr kompliziert, sehr fremd für mich. West und Ost, das sind ja zwei völlig verschiedene Welten. In China herrscht eine ganz andere Mentalität. Das war interessant für mich zu sehen, ich habe sehr viel gelernt.
Sabine: Während des Zweiten Weltkriegs bietet Shanghai 20.000 jüdischen Bürgern aus Europa Zuflucht. Die Andersartigkeit der chinesischen Kultur erschüttert die meisten jüdischen Emigranten.
D. L. Bloch: Weil das Leben so völlig anders ist als bei uns, wollte ich das festhalten, davon wollte ich eine Idee geben, durch Holzschnitte. Ich habe über 300 Holzschnitte gemacht, mit ganz verschiedenen Motiven, so als Illustrationen. Besonders die Rikschas sind für mich unvergesslich. Die waren einmalig, das gibt es heute nicht mehr.
Sabine: Rikschafahrer, Bettler, Obdachlose, Kriegsversehrte und Arbeitsuchende bevölkern Shanghais Straßen. Viele Holzschnitte von David Ludwig Bloch thematisieren das soziale Elend. Die ”Jüdischen Nachrichten”, die in Shanghai erscheinen, schreiben: ”Bloch sieht nicht nur mit den Augen des Künstlers, sondern als mitfühlender Mensch, dem seine Kunst Verpflichtung auferlegt.” Im Stadtviertel Hongkou, dem ehemaligen Ghetto, besuchen wir das jüdische Museum. Wir treffen Herrn Wang. Er ist hier aufgewachsen und kann sich noch gut an die Lebensbedingungen der jüdischen Emigranten erinnern. Interessiert blättert er in einem Buch, das die Holzschnitte von David Ludwig Bloch zeigt.
Wang Fa Liang (englisch): Die meisten Flüchtlinge lebten in Lagern oder Unterkünften, die von reichen jüdischen Familien in Shanghai unterstützt wurden. Viele der Shanghaier Juden stellten sogar ihre Häuschen entlang der Straßen zur Verfügung, wo die Emigranten kleine Geschäfte einrichten konnten: Cafés, Bierkneipen, Bäckereien, Schneidereien oder Lebensmittel-Geschäfte. Und viele lebten auch mit chinesischen Familien zusammen. Während ihres Aufenthalts in Shanghai starben Hunderte von Emigranten an den Folgen ihrer Armut durch Kälte oder Krankheit. Besonders das Alter machte auch vielen zu schaffen. Sie lebten hier in diesem Viertel, wo es im Winter keine Möglichkeit gab, die Wohnungen zu beheizen, und auch kaum sanitäre Einrichtungen. Wenn sie in ihren Wohnungen ein Bad nehmen wollten, mussten sie von chinesischen Wasserverkäufern heißes Wasser in Thermoskannen oder Wasserkesseln kaufen. Ihre Mahlzeiten mussten sie auf kleinen chinesischen Öfen zubereiten. Unter diesen Flüchtlingen gab es etliche Spezialisten wie Doktoren, Professoren, Ingenieure, Schriftsteller, Schauspieler, sogar Musiker. 300 der 20.000 Emigranten waren Musiker! Nun, während ihres Aufenthalts hier starben mehrere hundert Flüchtlinge.
Sabine: Nur wenige Meter vom jüdischen Museum entfernt finden wir die Chang Yang-Straße. Im Haus mit der Nummer 17 hat David Ludwig Bloch gelebt und gearbeitet. Wegen des europäischen Fernsehteams sind die Anwohner sehr neugierig. Wir fragen sie nach David Ludwig Bloch. Alle reden durcheinander. Aber niemand kann sich an den gehörlosen Künstler erinnern. Schließlich kommt ein Bewohner des Hauses Nummer 17. 1996 hat er David hier zufällig getroffen. David lebte früher in seiner Wohnung.
Passant (in englischer Sprache): Ja, es gab hier einmal einen Gehörlosen. Er war zusammen mit seinem Sohn hier. Der Sohn erzählte mir, dass die Zeit für seinen Vater damals sehr schwierig war. Er war sehr, sehr arm. Ein chinesisches Mädchen heiratete ihn und er war sehr verliebt in diese Frau. Zur Hochzeit leisteten sie sich zwei Tassen Kaffee. Zwei Tassen Kaffee, das war die ganze Feierlichkeit. Sie waren damals sehr, sehr arm. So erzählte man mir diese Geschichte.
Sabine: Dieses Foto wurde in der Chang Yang-Straße aufgenommen.
D. L. Bloch: Ich habe vom Malen gelebt, ja, aber auch von anderen Jobs. Und ein bisschen Unterstützung habe ich auch von meiner Frau bekommen. Davon habe ich eigentlich mehr gelebt. Und wir hatten gute Freunde, die sich alle gegenseitig sehr geholfen haben.
Sabine: Im heutigen Shanghai leben 175.000 Hörbehinderte. In der chinesischen Gesellschaft werden Behinderungen jeder Art von alters her diskriminiert. Seit zehn Jahren versucht die Stadtregierung eine neue Politik gegenüber Behinderten. Wir treffen den Vorsitzenden des Verbandes behinderter Menschen in Shanghai, Shen Li Qun.
Shen Li Qun, Vorsitzender Behindertenverband: Nach dem neuen Behindertenschutz-Gesetz ist der 3. März der „Tag der Liebe zu den Ohren“. An diesem Tag gehen wir auf die Straße und versuchen, die Leute aufzuklären, wie man die Hörfähigkeit schützt. Bei Problemen raten wir, sich schnell behandeln zu lassen und auf die Hilfe von Hörgeräten zurückzugreifen. Durch diese Maßnahmen wollen wir den Gehörlosen das gleiche Leben wie Hörenden ermöglichen. Natürlich sind unsere Möglichkeiten, den Gehörlosen zu helfen, sehr beschränkt. Im Vergleich mit der Förderung der Gehörlosen in Japan und in den USA ist unser Niveau noch recht niedrig. Im Vergleich zu diesen Ländern ist unser Angebot an Schulen und Ausbildungsstätten sehr eingeschränkt. Den Gehörlosen stehen hier im Endeffekt nur wenige Berufe offen.
Sabine: In einem Atelier des Behindertenzentrums besuchen wir zwei gehörlose Maler. Gut ausgebildete Gehörlose finden in Shanghai häufig in künstlerischen Berufen ihr Auskommen. Die beiden haben die Kunstakademie besucht und ihr Studium abgeschlossen. Jetzt kopieren sie Werke bekannter Künstler, die sich auf Kunstmärkten gut verkaufen lassen. Die Arbeiten von David Ludwig Bloch kennen sie nicht. In Shanghai findet David Ludwig Bloch zum ersten Mal in seinem Leben als Künstler öffentliche Anerkennung. Er beteiligt sich an einer Ausstellung. Seine Arbeiten werden in den Zeitungen der Emigranten ebenso besprochen wie in der chinesischen Lokalpresse.
Shen Li Qun (in chinesischer Sprache): Unsere Gehörlosen in Shanghai sind sehr intelligent. In Kunst, Design und Sport sind sie sehr erfolgreich. Vor ein paar Jahren haben wir in Shanghai die 10 erfolgreichsten jungen Leute ausgewählt. Und stellen Sie sich vor – an erster Stelle stand eine Gehörlose, nämlich: Hong Ze!
Hong Ze, Glasdesignerin aus Shanghai (gebärdet in chinesischer Sprache): Das größte Problem für uns Gehörlose ist nach wie vor die Verständigung mit unserer Umgebung. Mit Hörenden ist unsere Kommunikation viel langsamer. Wir nehmen dann Informationen langsamer auf. Das empfinde ich als unser größtes Handicap.
Sabine: Die technische Schule für gehörlose Jugendliche in Shanghai. In den neuen Gebäuden leben und lernen 600 gehörlose Jugendliche aus der ganzen Region. Die meisten fahren nur am Wochenende zu ihren Familien. Wir sind Gast im Unterricht für chinesische Literatur bei Frau Chen Dong. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen 15 und 16 Jahren alt. Auf dem Lehrplan stehen heute: ”Die Gedanken des Sprechens”. Wir dürfen den Unterricht unterbrechen, um Fragen zu stellen.
Sabine: Xuan Jing Feng, hast Du auch hörende Freunde?
Xuan Jing Feng (gebärdet in chinesischer Sprache): Fast alle meine Freunde stammen aus der Schule. Ich habe keine Freunde außerhalb der Schule gefunden. Naja, ein paar gibt es schon. (ZS) Draußen haben wir einfach Schwierigkeiten, uns mit Hörenden auszutauschen. Es bereitet mir große Probleme, mich mit ihnen zu verständigen. Aber in der Familie klappt die Kommunikation ganz gut.
Sabine: Zhao Shi Bei, welche Pläne hast Du für die Zukunft?
Zhao Shi Bei: Ich hoffe, dass ich in den USA studieren kann oder aber an einer Kunstakademie in China aufgenommen werde.
Sabine: Chen Dong, warum sind Sie Lehrerin für Gehörlose geworden?
Chen Dong (gebärdet in chinesischer Sprache): Für mich ist das wie ein Traum, dass ich Lehrerin für Gehörlose geworden bin. Als ich Studentin war, habe ich einmal auf der Straße gehörlose Kinder an einer Bushaltestelle beobachtet, die sich in Gebärdensprache unterhielten. Ich konnte sie natürlich nicht verstehen. Die Art ihrer Kommunikation faszinierte mich aber. Seither hatte ich den Wunsch, irgendwann einmal gehörlose Schüler zu unterrichten. Am Ende meiner Ausbildung an der Universität bot sich mir dann die Gelegenheit. Die GL-Schule in unserem Bezirk machte eine Ausschreibung und suchte eine Lehrerin. Ich habe mich sofort freiwillig auf diese Stelle beworben. (ZS)
Sabine: Hong Ze, wie funktioniert die Verständigung Gehörloser innerhalb eines so großen Landes wie China?
Hong Ze: In China wurde die Gebärdensprache erst vor kurzem vereinheitlicht. Es gibt in China viele Dialekte. Deshalb unterscheiden sich noch manche Gebärden voneinander. Der größte Teil der Gebärden konnte aber in der Zwischenzeit angeglichen werden. Zwischen den Gehörlosen aus Nordchina und denen aus Südchina gibt es halt immer noch Unterschiede im Gebärden. Wir können uns aber untereinander verständigen. Je öfter wir zusammen kommen, desto besser klappt unsere Kommunikation.
Chen Jie, Stellvertretender Vorsitzender der Gehörlosen in Shanghai: (gebärdet in chin. Sprache): Wir benutzen hauptsächlich die orale Sprache und nur zum geringen Teil die Gebärdensprache. In der Grundschule lernen die gl Kinder in der ersten, zweiten und dritten Klasse durch Lautspracherziehung schreiben und sprechen. Die richtige Gebärdensprache lernen wir erst etwa in der fünften oder sechsten Klasse, also ab 12 Jahren. Wir werden in zwei Sprachen ausgebildet, im Gebärden und in oraler Sprache. Allein mit oraler Sprache können wir uns nicht verständigen. Wenn wir nur Gebärdensprache benutzen, können wir uns in China nicht zurecht finden.
Sabine: Übrigens - alle Gehörlosen, die wir treffen, gebärden. Die orale Sprache ist ihnen ziemlich egal. Jetzt besuchen wir das Behindertenzentrum. In der Zeichenklasse übersetzt eine Dolmetscherin den Unterricht des hörenden Lehrers in Gebärdensprache. Die Schüler lernen, Cartoons zu zeichnen. Es ist ein großes Privileg, hier Unterricht zu erhalten. Die Vertreter der Stadt Shanghai sind stolz auf die neue Ausbildungsstätte. Und die Gehörlosen, die wir interviewen, sind hoch motiviert. Wang Yan Bei ist 26 Jahre alt. Sie ist verheiratet und hat eine 4-jährige Tochter. Wir fragen Wang Yan Bei, was sie nach Ihrer Ausbildung machen möchte.
Wang Yan Bei (gebärdet in chinesischer Sprache): Nach meiner Ausbildung hier werde ich mich um einen Job in einem Studio für Zeichentrickfilme bemühen. Das würde ich am liebsten tun. Davor möchte ich einen Computerkursus machen, damit ich lerne, Zeichentrickfilme auch am Computer zu animieren.
Sabine: Über die Hälfte aller chinesischen Bürger ist unter 30 Jahre alt. 1973 hat die chinesische Regierung begonnen, die Ein-Kind-Ehe durchzusetzen: Alle Familien in China dürfen nur ein Kind zur Welt bringen. Wir besuchen einen Kindergarten für gehörlose Kinder. Wir erfahren nicht, wie viel ein betreuter Platz im Kindergarten kostet und ob sich alle Eltern die Therapie für ihr Kind leisten können. Alle Kinder tragen ein Hörgerät. Die Erzieherinnen sind sehr aufgeregt. Auf der Tafel steht: ”Wir feiern unseren Nationalfeiertag”.
Chen Jie, Verbandsvertreter der Gehörlosen (gebärdet in chinesischer Sprache): Wenn man ein behindertes Kind bekommen hat, hat man die Chance, noch ein zweites, gesundes Kind zu bekommen. Eine Bevorzugung von Behinderten im Gesetz zur Familienplanung.
Sabine: Zum Abschied ein Lied. Funktionäre wie Gehörlose haben uns voller Stolz die modernsten sozialen Einrichtungen der Stadt vorgeführt. Wir haben gemischte Gefühle. Unsere Aufnahmen sind nicht repräsentativ für die Lebensbedingungen der Gehörlosen von Shanghai. Aber sie dokumentieren einen Aufbruch: Die Stadtverwaltung hat angefangen, sich zu ihren gehörlosen Bürgern zu bekennen und sich um sie zu kümmern.
Jürgen Stachlewitz: Ja, das ist nun ungefähr 60 Jahre her, dass David Ludwig Bloch in den Straßen von Shanghai saß und diese wunderschönen Holzschnitte machte, über 300 an der Zahl! Seit 1949 lebt er in der Nähe von New York. Und gerade in diesen Tagen, am 25. März, feiert er seinen 92. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, lieber David, von allen deinen Freunden hier in Deutschland! Und bleib bitte noch lange gesund! Wenn Sie an diesem Buch mit Davids Holzschnitten interessiert sind – Sie können es direkt beim Verlag oder auch über den Buchhandel bestellen.
David Ludwig Bloch:
„Holzschnitte – Woodcuts, Shanghai 1940 – 1949“
Steyler Verlag, 41311 Nettetal, Preis: 30,- Euro
Fax: 02157 / 120222