Gehörloser Maler Richard Liebermann

Sehen satt Hören 1068. Sendung am 9. Dezember 2001

Bericht über den gehörlosen Maler Richard Liebermann

Präsentator Jürgen Stachlewitz: Hallo, willkommen bei Sehen statt Hören! Heute haben wir drei Kulturbeiträge für Sie. In Neu-Ulm wurde vor kurzem eine Ausstellung über Leben und Werk des gehörlosen Malers Richard Liebermann eröffnet. Die politischen Ereignisse und die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit haben seinen Lebensweg bestimmt. Folgen Sie uns auf die Spurensuche nach diesem Künstler, der bis vor einigen Jahren noch fast völlig vergessen war.

Anfangsbilder mit Filmtitel: Richard Liebermann, 1900 – 1966, Lebenslinien eines gehörlosen, jüdischen Künstlers.

Moderator Jürgen Stachlewitz: Vor über 100 Jahren kam der Maler Richard Liebermann hier in Neu-Ulm zur Welt. Sein Leben ist bestimmt von zwei Faktoren: er ist Jude und er ist gehörlos. Diese Ausstellung zeigt das Leben von Richard Liebermann. Zufällig befindet sich gleich gegenüber das Haus, in dem Richard Liebermann geboren wurde. Sein Vater war Hopfenhändler und die Familie war nicht vermögend, da die Mutter oft krank war und die Behandlung viel Geld kostete. Richard Liebermann hat noch drei Geschwister. Die jüngste Schwester Gertrud hat ihn sein Leben lang begleitet.

Text zu Bildern: Die Friedrichstraße in Neu-Ulm. München vor dem 1. Weltkrieg.

Jürgen Liebermann: Richard Liebermann ist von Geburt an gehörlos. Er besucht die „Königliche Taubstummenanstalt“ in München. Das hier ist Professor Wanner. Er war Lehrer und Arzt und ist Richard Liebermann sehr ans Herz gewachsen. So malt er das Porträt von ihm. Später dann besucht Richard Liebermann die Akademie der Bildenden Künste in München. Sie können sich vorstellen, dass das Studium für einen Gehörlosen zur damaligen Zeit nicht selbstverständlich war. Denn damals wurde offen darüber diskutiert, Behinderte zu sterilisieren.

Es werden Porträts von Richard Liebermann aus seiner Studienzeit gezeigt. Die Münchner Malerfürsten sind sehr konservativ. Die Ausbildung an der Akademie folgt den strengen künstlerischen Regeln des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Jürgen: Der gehörlose Student findet immer mehr Anerkennung. Während seines Studiums interessiert sich Richard Liebermann besonders für Landschaftsmalerei und Porträts. 1931 porträtiert er Albert Einstein. Der weltbekannte Physiker sagt, das Porträt sei das beste, das jemals von ihm geschaffen wurde. Das hier ist Max Liebermann, der aber nicht mit Richard Liebermann verwandt war. Auch er ist von dem Porträt begeistert. Und so kam es zum Durchbruch des gehörlosen Künstlers. Seine Bilder werden in mehrere Ausstellungen aufgenommen. Adolf Hitler wird Ende 1933 Reichskanzler. Obwohl Richard Liebermann mit 23 Jahren Katholik wurde, bleibt er für die Nationalsozialisten „Volljude“. Das bedeutet unter anderem Berufsverbot und folglich Arbeitslosigkeit für ihn. Eine Ulmer Bürgerin meint es gut mit ihm und möchte ihm helfen, indem sie sich von ihm malen lässt. Während des Malens bricht Richard Liebermann vor Hunger zusammen.

Text zu Bildern: Schon am 1. April 1933 organisiert das NS-Regime den Boykott jüdischer Geschäfte.

Jürgen: Die Familie Liebermann zieht dann nach Konstanz am Bodensee. Wahrscheinlich auch, um bei weiterer Verfolgung schnell zu den Verwandten in die Schweiz zu fliehen. Während Richard Liebermann an seiner Staffelei sitzt und malt, spricht ihn ein Spaziergänger an, der selbst auch Jude ist. Er macht Richard Liebermann das Angebot, in einem Landschulheim in der Nähe von Ulm, dass er selbst leitet, zu arbeiten. So erteilt Richard Liebermann von 1936 – 1939 hörenden Kinder Malunterricht.

Es werden weitere Bilder gezeigt: Richard Liebermann mit seiner Mutter und Schwester Gertrud 1935 in Konstanz und als Zeichenlehrer in Herrlingen

Jürgen: 1940 haben die Deutschen in einem Blitzkrieg den Norden Frankreichs besetzt. Jüdische Bürger aus dem Elsass und Lothringen werden in das Konzentrationslager Gurs im Süden Frankreichs deportiert. Darunter auch Richard Liebermann mit seinem Vater sowie zwei Geschwistern. Seine Mutter und sein Bruder bleiben in Deutschland und werden Opfer des Euthanasieprogramms. Das Leben im KZ Gurs ist sehr hart. Bis zu 20.000 Menschen werden in den Holzbaracken zusammen gepfercht. Demzufolge herrschen Krankheit und Hunger unter den Häftlingen. Richard Liebermann kann sich kaum noch auf seinen Beinen halten. Trotzdem nutzt er jeden Zettel, um Bilder und Skizzen anzufertigen. In Gurs werden Deportationszüge zur Vernichtung jüdischer Internierter zusammengestellt. Die Familie Liebermann entgeht diesem Schicksal nur knapp. Sie wird in das Krankenlager Noé verlegt. Dort sind die Lebensverhältnisse etwas besser; dennoch stirbt der Vater. Obwohl nun auch Richard Liebermann der völligen Entkräftung nahe steht, bemalt er die Scheiben der Barackenfenster des Lagers. Das Personal und die Offiziere sind davon positiv angetan und bringen die Liebermanns in ein von Nonnen geführtes Heim. So rettet Richard Liebermann sein Leben und das seiner Geschwister. Dort erleben sie das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Text zu weiteren Bildern: Jüdische Bürger in Frankreich auf dem Weg zum Transport in die Vernichtungslager.

Jürgen: Richard Liebermann bleibt für den Rest seines Lebens in St. Rambert in Frankreich. Schwungvoll und schön malt er nun seine Stadtansichten und Landschaften. Im Ort selbst unterstützt er die katholischen Geistlichen. Geld hat er keines; und wenn er etwas braucht, kann er mit seinen Bildern Lebensmittel und Kleidung bezahlen. Deshalb hängen heute noch in St. Rambert viele seiner Bilder. Am 10. Dezember 1966 stirbt Richard Liebermann.

Bilder von Richard Liebermann: Richard-Lieberman-Ausstellung: Bis 3. Februar 2002 im Edwin-Scharff-Museum, Petrusplatz, Neu-Ulm.

Jürgen: Hat Liebermann seine Gehörlosigkeit damals öffentlich gezeigt? Und hatte er Kontakte zu Gehörlosen?

Gitta Fehringer: Richard Liebermann war relativ unbekannt. Er erlebte als Jude die Nazi-Zeit. Er zog sich wohl eher zurück – schon auf Grund der Judenverfolgung. Sein gehörloser Freund Rudolf Kreuzer war viel mit ihm zusammen, denn zu den Gehörlosen konnte er ja nicht gehen. Kreuzer half Liebermann auch durch die Zeit der Verfolgung als Jude. Und als er 1928 zum katholischen Glauben konvertierte, war der gehörlose Rudolf Kreuzer sein Taufpate. Der beteiligte Gehörlosenseelsorger war Edelmar Ruß. Für die Nazis änderte das aber nichts an seiner jüdischen Abstammung und so wurde er trotzdem nach Frankreich deportiert, wo er sprachlich bedingt völlig isoliert war. Liebermann hatte eine Schwester, die die Familie versorgte, da die Mutter krank war. Sie begleitete ihn als Leibdolmetscherin bis zu seinem Tod und war immer in seiner Nähe. Ich denke, sie hatten so eine Art familiäre Gebärdensprache. Andere Kontakte zu Liebermann sind keine bekannt. Ich denke, dass er nach seiner Deportation nach Frankreich und vorher in Deutschland keine Kontakte zu Gehörlosen hatte. Er lebte an der Seite seiner Schwester und sonst sehr isoliert.